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Musiktherapie in Grundschulen
Angelo Toro
Einführung in den Arbeitsbereich
Die Musiktherapie in Schulen bietet Kindern Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung, die im Regelunterricht nicht gegeben sind. In einer kleinen Gruppe von drei bis fünf Kindern wird gezielt auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingegangen. Gruppenfähigkeit wird an einem geschützten Ort geübt und widergespiegelt. Die Kinder können so ihre Fähigkeiten zum Vorschein bringen und ihrer Kreativität in vielerlei Form Gestalt geben. Die Rolle der Sprachkompetenz ist hierbei zweitrangig. Das Klang- und Formenspektrum der Instrumente regt die Fantasie an und eröffnet Räume für die Darstellung von Ansichten, Werten, Zweifeln, Ängsten, aber auch für die Selbstprofilierung innerhalb der Gruppe (vgl. Fallbeispiel M.). Durch die Musiktherapie gelingt eine Einschätzung der sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder, die für die Arbeit in der Klasse besonders relevant sind.
Sozialer Druck trägt dazu bei, dass Kinder in Krisensituationen nicht auffallen wollen. Die Angst vor Isolation und Stigmatisierung setzt Kinder, die eine Krise zu bewältigen haben, in der Schule zusätzlich stark unter Druck. Wenn nicht nur die emotionale, sondern auch die innerfamiliären Ressourcen eines Kindes, zum Beispiel innerhalb einer Krise, geschwächt sind, kann dies schwierige Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben. Die Musiktherapie bietet Schutzorte in der Schule, in denen der individuellen Krisenbewältigung Raum gegeben wird, was sich auch positiv auf den allgemeinen schulischen Lernprozess auswirkt (vgl. Fallbeispiel S.).
Die Selbstwirksamkeit in einer vertrauten Atmosphäre innerhalb der kleinen Gruppe testen zu können, dient vielen Kindern als Basis für den Aufbau ihres Selbstwertgefühls. Es wird geübt, auch mal im Mittelpunkt der Gruppe zu stehen, und irgendwann wird dies selbstverständlich. Gleichzeitig wird diese für einige Kinder besonders schwierige Position durch die Übersichtlichkeit und das Vertrauen innerhalb der Gruppe aufgefangen (vgl. Fallbeispiel J.).
Angebotsstrukturen
Die Implementierung der Musiktherapie in den schulischen Alltag ermöglicht Kindern die Teilnahme, die über externe ambulante therapeutische Angebote häufig nicht erreicht werden. Daher besteht in der niedrigschwelligen und aufsuchenden Angebotsform hier ganz besonders die Chance, problematische Verhaltensweisen und Entwicklungen aufzufangen, bevor es zu einer kritischen Zuspitzung kommt.
Die Kleingruppenarbeit findet in der Regel eine Stunde wöchentlich im Musikraum oder einem anderen geeigneten Raum der Schule statt. Die Kinder werden in Abstimmung mit der:dem Musiktherapeut:in teils klassenübergreifend auf Empfehlung der Klassenlehrer:innen vom Unterricht freigestellt. In der Grundschule ist der Austausch zwischen Musiktherapeut:in und schulischer Bezugsperson und damit die gute Anbindung der musiktherapeutischen Arbeit an den schulischen Alltag besonders wichtig. Die Kinder sind in diesem Alter noch eng an die schulischen Bezugspersonen gebunden.
Fallvignette M.
In der Begrüßungsrunde hat jedes Kind einer Vierergruppe ein Instrument vor sich. Als M. an der Reihe ist, berichtet er von seiner Woche und wieder von einem Traum. In gebrochenen Sätzen sagt M.: Mein Traum … ich … großes Schwimmbad … schwimmen … Papa nicht festhalten. Er macht parallel zur Erzählung Geräusche auf der Conga, umarmt die Conga hebt sie und schiebt sie mit seiner ganzen Kraft hin und her. Inzwischen kennt M. das Instrument sehr gut, kann damit Regen und ein Gewitter erzeugen, kann Meeresgeräusche nachmachen, aber ganz besonders gut explosionsartig laut spielen - wenn dies auch erlaubt ist. Jedoch will M. unbedingt der Gruppe zeigen, wie leise, filigran und differenziert er auch spielen kann, wenn z.B. Tiere Raten oder Zoo gespielt wird. Bei ihm muss die Gruppe dann zum Beispiel eine Ameise erraten.
M. gehört zu einer geflüchteten Familie aus Afghanistan, die erst seit wenigen Monaten in Deutschland lebt. Der Kontakt zwischen Eltern und Lehrer:innen ist aufgrund der Umstände der Familie und der sprachlichen Barrieren schwierig. Im Unterricht ist M. unruhig und ständig in Bewegung, kann sich nur schlecht konzentrieren, stört die anderen Kinder und den Unterricht. M. gilt für die Klassenlehrerin als ein „schwieriger Schüler“, der durch sein grobes, hyperaktives Auftreten schnell den Rahmen sprengt. M. ist ein aufgeweckter Junge, der gerne in Konkurrenz mit anderen geht, dabei hartnäckig seine Fähigkeiten wie ausgeprägte Kreativität und körperliche Geschicklichkeit so lange ausschöpft, bis seine Rolle in der Gruppe feststeht. M. übernimmt gerne Verantwortung. Entsprechend ist seine Frustration groß, wenn er diese Kompetenzen nicht ausleben kann.
In der Musiktherapie erhält die Conga eine besondere Bedeutung für M. Er konnte einen bedrohlichen Wirbelsturm auf der Conga spielen, hat sich aber auch hinter der Conga verstecken können und das Instrument auch mal umarmt; gleichzeitig war er für die anderen Kinder bereits der „Conga- Spezialist“ und erlebte sich dadurch als kompetent und selbstwirksam.
Fallvignette S.
S. spielt auf dem Glockenspiel ein langsames Lied - so leise, dass es Mühe kostet, zuzuhören. Sie spielt nur ein paar Sekunden, jedoch macht sich in der Begrüßungsrunde eine Stille breit, bevor das nächste Kind anfängt zu erzählen und zu spielen. S. lächelt, während sie spielt, sie sagt wie immer, es gehe ihr gut. In der fünften Musiktherapiestunde spielen wir auf den Instrumenten „Tigerbabys“. S. spielt kaum hörbar auf einer Triangel, und ein anderes Kind sagt: „S., du sollst laut spielen, das sind verspielte Tigerbabys.“ Sie antwortet, während sie höflich lächelt: „Wie kann ich laut spielen, wenn die Mama gerade gestorben ist?“
S. Mutter ist vor wenigen Monaten an einer Krankheit gestorben. S. kommt zur Musiktherapie, weil Ihre Klassenlehrerin sich immer wieder wundert, dass S. so „normal“ wirkt und sich nichts Außergewöhnliches anmerken lassen will. S. lächelt im Unterricht immer freundlich und spricht, seit dem Tod ihrer Mutter gar nicht darüber.
S. geht in die dritte Klasse und kommt zur Musiktherapie mit zwei weiteren Kindern aus der 4. Klasse. Wenn sie zur Musiktherapiestunde kommt und im Kreis nach einer Befindlichkeits- Blitzlichtrunde kurze Improvisationen mit den anderen Kindern spielt, bevorzugt sie kleine Instrumente. Ihre Spielweise ist immer ähnlich: leise und langsam. Das wirkt in der Gruppe stark, und die anderen Kinder kommentieren diese Wirkung immer wieder: „So leise kann ich nicht spielen“, „ich möchte aber fröhlich und nicht traurig spielen“. S. gestaltet musikalisch ihre Befindlichkeit und hat einen starken Einfluss auf die gemeinsame Improvisation. S. hat die Chance, eine Spielweise auszuwählen und zu demonstrieren, worauf die anderen eingehen können, aber nicht müssen. Damit kann S. eine Distanz zu ihrer innerpsychischen Verlässlichkeit nach ihrem schweren Verlust entwickeln. Sie kann sich nach dem eigenen Bedürfnis und im eigenen Tempo dazu äußern.
Die Beschäftigung mit musikalischen Gestaltungselemente ermöglicht S. eine nötige Distanz zu ihrer Krise. Der geschützte Raum war für sie ein sicherer Ort, wo sie mit ihrem Verlust aufgefangen werden konnte. Anfangs spricht S. über den Tod der Mutter eines der „Tigerbabys“. Bis sie über den Tod ihrer eigenen Mutter sprechen kann, vergehen vier weitere Therapiestunden. Der Musiktherapiegruppe ist gelungen, den bedrohlichen Trauerprozess von S. mit der nötigen Teilnahme und Sensibilität zu begleiten.
Fallvignette J.
Mit der Trommel auf den Knien wirkt J. in der ersten Musiktherapiestunde völlig orientierungslos. Er schaut mit großen Augen und bekommt ein rotes Gesicht, weil er auf seiner Trommel einen leichten Regenschauer spielen soll. Jedes der vier Kinder soll auf einer Trommel bestimmen, wie stark der Regen ist und diesen variieren, von ganz stark bis ganz leicht, von kurzen Regenschauern bis zu Sonnenschein. J. ist jetzt dran und darf vormachen. Verlegen klopft er leicht mit einem Finger auf der Trommel und wirkt überrascht, als alle das gleiche machen wie er. Er guckt sich um und traut sich nun, etwas lauter und mit zwei Fingern zu spielen, bis er wieder aufhört und scheinbar erleichtert die Stille nach seinem leichten Regenschauer nicht ganz glauben kann.
J. geht in die erste Klasse und wirkt nach den Winterferien für seinen Klassenlehrer immer noch so schüchtern und zurückhaltend wie zu Beginn des Schuljahres. Immer wenn J. in der Klasse etwas sagen soll, wirkt er hilflos und bedrückt, dann kommt nach langem Warten höchstens ein Wort von ihm, und sehr oft fangen andere Kinder an zu lachen. J. findet in der Schule nicht recht Anschluss, ist oft in der Pause allein und redet mit kaum jemandem. Obwohl dieses Verhalten vom Beginn des Schuljahres an besteht, wurden die Lehrer nicht tätig, weil J. sonst kein „Problemschüler“ sei.
J. gehört zu jenen Kindern, die in der Schule kaum auffallen, weil sie in ihrer Zurückhaltung keine „Probleme“ bereiten. Diese Kinder entwickeln sich, sprachlich und sozial unterdurchschnittlich und laufen Gefahr, unentdeckt zu bleiben, da auf lauteren, auffälligeren Schülern häufig automatisch der Fokus liegt und so ihre Probleme offensichtlicher zu Tage treten.
In der vierten Musiktherapiestunde traut sich J., den anderen Kindern der Gruppe zu sagen, dass er eigentlich ein Gewitter im Sinne hatte, die andern hätten aber nur mit leichten Regen reagiert. Ein anderes Kind schlägt vor, J. könnte dann mit der ganzen Hand spielen und nicht nur mit einem oder zwei Fingern. J. setzt dann den Vorschlag um, spielt mit beiden Händen auf der Trommel, während die andern spannungsvoll das Gewitter nachmachen. Plötzlich haut J. einmal aus voller Kraft auf die Trommel. Leise sagt er dann und mit rotem Gesicht: „Das war ein Donner.“
Kontakt
Arbeitskreis "Musiktherapie in pädagogischen Settings"